Interview aus dem Kreis-Anzeiger vom 30.01.2016
Ein Tausendsassa des Entertainments
Von Judith Seipel
REDAKTIONSGESPRÄCH Karl Oertl über Fastnacht und Traumschiff, den perfekten Auftritt und unglaubliche Begegnungen rund um den Erdball.
Geschichten über Flüchtlinge. Auch das ist eine. Freilich aus einer anderen Zeit und vor einem anderen Hintergrund. Vielleicht mutet sie mit ihrem Happy End an wie ein Märchen angesichts der aktuellen Herausforderung, mehr als eine Million Flüchtlinge in unsere Gesellschaft zu integrieren. Doch sie ist wahr. Und taugt deshalb auch ein bisschen zum Mut machen. Denn niemand hätte geahnt, dass der sechs Jahre alte Flüchtlingsbub Karl, der nach der Vertreibung aus dem Sudetenland 1946 mit der Mutter und zwei Geschwistern in Fauerbach gestrandet war, mal als „Kall“ Oertl die hessische Fastnacht versinnbildlichen würde wie kein Zweiter.
„Der Beckenbauer der Fastnacht“ hat die Frankfurter Rundschau über Karl Oertl getitelt, als er noch in Frankfurt lebte und wirkte. Seit einiger Zeit ist er mit seiner Frau Helga in der Waldsiedlung daheim. Zeit also für ein Redaktionsgespräch mit Hessens Oberfastnachter. „Kräppel vom Rank“ hat er sich für den Besuch beim Kreis-Anzeiger gewünscht. Wir haben den Konferenzraum mit Luftschlangen und Konfetti geschmückt und geben die Bühne frei für einen Tausendsassa des Entertainments.
77 wird Karl Oertl im April, und das Treppensteigen fällt ihm schon etwas schwer. Allerdings schleppt er auch die Höhepunkte seines Lebens mit sich: Zeitungsartikel, Reden und Bilder, ordentlich abgeheftet zwischen Aktendeckeln. Das ganze reiche, immer wieder angepackte und so viele Male zum Guten gewendete Leben, aus dem er fast drei Stunden lang erzählen wird – Aberwitziges, Unglaubliches, Trauriges und zum Brüllen Komisches – passte schwerlich in die beiden Stoffbeutel links und rechts an seinen Armen. Unten im Auto hängt noch ein Kleidersack mit zwei Jacketts fürs spätere Foto: ein rotes und ein blaues, beide mit glitzernder Tresse, zur Auswahl. „Die hat der Hessische Rundfunk noch bezahlt.“
„Wo müsse mer hin?“ Der massige Mann ist ein Macher. Immer gewesen. Schon mit 13 hat er sein Leben selbst in die Hand genommen, das Gymnasium in Nidda geschmissen, um sich bei einem Bauern in Nieder-Seemen zu verdingen. Später hat er eine Ausbildung zum Schmied gemacht. Damals hat er den Grundstock gelegt für alles, was kommen sollte und das ihn mitunter selbst ungläubig staunen lässt: „Das erlebt net jeder!“
Der Beruf trägt Karl Oertl hinaus in die Welt. In Argentinien arbeitet er ein Jahr lang als Schweißer und Schlosser. Das Spanisch, das er dabei lernt, und seine Neugier auf die Welt ermöglichen ihm später die Arbeit als Reiseleiter und als Conférencier und Zauberkünstler auf Kreuzfahrtschiffen. Der Vogelsberger Bauer, dessen Auftritte in der Bütt legendär sind und der ihm die liebste seiner vielen närrischen Rollen ist, hat seine Wurzeln wohl auch im Seemental.
Fastnacht oder Traumschiff, das ist dem Karl Oertl „wurscht egal, wenn man nur die Leute gut unterhält“. Und das kann er. Die Stimmung im Saal erspüren, die Leute erspähen, die er direkt ansprechen und auch mal auf die Schippe nehmen kann: „Ich suche den ersten Kontakt, wenn ich durch den Saal gehe. Das merke ich am Gesichtsausdruck, manchmal an der Kleidung, mit wem was geht.“ In über 50 Jahren Fastnacht geht das nicht ein einziges Mal schief. „Du musst ,e Gefoil‘, ein Gefühl haben fürs Publikum, sonst geht gar nichts.“ Und eine eherne Regel, die nicht verhandelbar ist: „Ich bin gegen alles, was Schwache noch schwächer macht.“ Auch die Narrenfreiheit hat ihre Grenzen. Für Karl Oertl sind das die derben Zoten. „Man kann nicht alles beim Namen nennen.“
Die Fernsehsendung „Hessen lacht zur Fassenacht“, deren Sitzungspräsident er über 20 Jahre lang bis 2006 ist und die zur Glanzzeit der deutschen Fernsehunterhaltung sogar bundesweit ausgestrahlt wird und ihm große Popularität beschert, ist nur „das Dippelche auf dem i in meinem Leben“. Ursächlich für seinen Erfolg, da ist er sich ganz sicher, sei sein oberhessischer Dialekt, „ein Mischmasch aus dem, was hier so gesprochen wird“. Apropos Popularität. Er wäre nicht der versierte Unterhalter, fiele ihm dazu nicht eine kuriose Geschichte ein. Die spielt in Florida, irgendwann in den 90ern. Er ist mit Sohn Rainer, „meinem Bub“, unterwegs, fährt von Miami aus durchs Land und bucht in einem Ort („der Name fällt mir grad‘ nicht ein“) ein Hotelzimmer: „A room for me and my son to sleep.“ – „Ach, des is‘ abber schee, dass uns de Kall Oertl aach emal besucht“, kräht die Rezeptionistin. Als Frau eines GIs hat es sie von Gießen nach Florida verschlagen. „Und immer, wenn die Heimweh hatte, hat sie ,Hessen lacht zur Fassenacht‘ auf Video geguckt.“
Was hat er nicht alles erlebt: den Hans-Dietrich Genscher interviewt, mit der Petra Roth Büttenreden einstudiert („Ein Profi, der musste man nicht viel sagen“), mit Heinz Schenk gefeiert („Ein schwieriger Mensch, der mochte einen oder nicht“) und auf den Galapagosinseln die Riesenschildkröte Lonesome George gestreichelt.
Es gibt Menschen, denen widerfahren die irrsten Geschichten. In Buenos Aires lässt er sich die Haare schneiden und kommt dabei mit dem Friseur ins Gespräch. 1961 ist das. Nein, antwortet Oertl aufs interessierte Nachfragen, er ist kein Spanier, er ist Deutscher. Oh, der Friseur auch. Langsam tasten sie sich zurück in ihren Biografien. Aus Eger? Was? Ich auch! Na so was! Der Friseur ist der Schulfreund von Oertls Großvaters Matthias Rauch und hat die Heimat schon vor dem Krieg verlassen. Sachen gibt‘ s, die glaubt man nicht.
Ehefrau Helga, mit der Karl Oertl seit 54 Jahren verheiratet ist, kommt aus Bergen-Enkheim, so verschlägt es ihn nach Frankfurt. Die Schwiegermutter ist blind, und als er vom Blindenbund gebeten wird, zur Zerstreuung ein bisschen Karneval zu machen, findet er sein Metier. Das ist zu Beginn der 1960er Jahre. Zunächst ist der Karnevalsverein Enkheim seine närrische Heimat, seit 1991 die Bornheimer Karnevalsgesellschaft. Bis zur Rente arbeitet er als Verwalter und Inspektor für die Bürgerhäuser der Frankfurter Saalbau GmbH und ist in dieser Funktion, wen wundert’ s, geradezu ideal mit der Fastnacht verbunden.
Drei Söhne haben die Oertls. Der jüngste, Rainer, hat das Down Syndrom. So stößt Karl Oertl schon früh zum Verein Lebenshilfe, für den er sich fürderhin engagiert. Regelmäßig sorgt er dafür, dass bekannte Künstler unentgeltlich bei Veranstaltungen des Vereins auftreten. Das spült erstens Geld in die Kasse der Lebenshilfe, und zweitens ist ein prominenter Fürsprecher ein probates Mittel gegen Vorurteile. Der Ehrenbrief des Landes Hessen und der Hessische Verdienstorden am Bande sind die äußeren Zeichen der Anerkennung solchen Wirkens.
Zurück zur Unterhaltung. Karl Oertl ist frei von Lampenfieber, strotzt vor Selbstbewusstsein und scheut sich nicht zu sagen: „Ich kann’ s halt!“ Zum Beispiel einen rappelvollen Saal eine Stunde lang aus dem Stegreif bei Laune halten. „Na, was?“, blitzt er seine drei Gegenüber an, die sich schon mehrfach an diesem Vormittag die Tränen aus den Augen gewischt haben, und verrät so etwas wie das Geheimnis seines Erfolges: „Ich hab hier drei Leute und drei Lacher in kurzer Zeit. So geht das. So schieß‘ ich meine Dinger ab, eins nach dem andern!“ That’ s it.
Wie das mit dem „Abschießen“ genau funktioniert, vermittelt er bis zum Herbst 2013 in seiner Büttenrednerschule in Bergen-Enkheim, einer Kaderschmiede der hessischen Karnevalisten, die er schließlich aufgibt, weil er kürzertreten will. Narr sein, in die Bütt steigen, den Leuten Spaß bereiten, das kann man lernen, darin lässt Oertl sich nicht beirren. „Ich hatte eine Fastnachtspräsidentin aus Oberrad, die bei ihren Vorträgen immer leiser wurde. Zu der hab ich gesagt: ,Verdammt noch mal, geh in den Wald und schrei die Bäume an!‘ Seitdem ist sie dem Karneval hold.“
Viele Redner seien fixiert auf ihren Vortrag, auf die Reime (die man sich übrigens auch von Karl Oertl verfassen lassen kann). „Dabei ist das wichtigste das Hinaufgehen auf die Bühne und der Einstieg in die Bütt. Wenn das nicht funktioniert, ist der ganze Auftritt nix.“ Inszenierung. Das Timing muss stimmen, die Kommunikation mit der Band, „ohne dass einer was merkt“. Gewappnet sein für den Fall, dass vor lauter Aufregung das Redemanuskript auf dem Boden landet. „Eine Katastrophe, wenn dann die Seiten nicht nummeriert sind. Alles schon erlebt.“ Davor will Karl Oertl die Fastnachter bewahren. Das Publikum auch. Zu viele schlechte Auftritte, zu viele Profilneurotiker hat er schon erlebt.
So mischt er weiter mit, hilft der Fastnacht und ihren Akteuren auf die Sprünge, babbelt, schunkelt und reimt. Hier eine Büttenrede, dort eine Moderation. Viele lokale Größen vertrauen auf seinen Rat. Mit dem Büdinger BCC hat er gemeinsam die Kampagne vorbereitet. Er ist ausgelastet. Eine Sorge treibt ihn allerdings um: „Der Karneval nimmt langsam, aber sicher den Weg nach unten.“ An Karl Oertl liegt es gewiss nicht.
Text (c) by Kreis-Anzeiger
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